Über den Genius

Um klare Sicht auf unsere Zukunft zu erlangen, ist es notwendig, sich eine oder mehr Stufen geistig zu erheben. Um es handfest und konkret zu machen, unternehmen wir einen Ausflug in die Geistesgeschichte. Dies ist nicht als eine geschichtswissenschaftliche oder streng philosophische Unternehmung zu verstehen, sondern phänomenologisch. Dies führt zu neuen Perspektiven auf den menschlichen Geist und das Geistige. Wir möchten bei diesem Ausflug dem Genius nahekommen.

Sein Erleben oder sein Gewahr werden war im Laufe der Epochen und Kulturen unterschiedlich. Es gab in der Geschichte immer wieder herausragende Beispiele für den Genius und seine Wirksamkeit. Gegenwärtig hören und lesen wir wenig von ihm. Das ist bedauerlich. Denn zum Verständnis des Ich, des Individuums und des geistigen Wesens des Menschen kann dies ein Schlüssel sein.

Heinrich Böll schrieb einmal:

„Heiligkeit und Genie entziehen sich der Definition!“

Der Genius ist schwerlich mit Worten zu beschreiben, gar zu definieren. Bilder helfen weiter. In der Vergangenheit wurde von Genius in der männlichen Form gesprochen. Genia – die weibliche Form, sei hiermit als Kunstwort oder Wortneuschöpfung ins Leben gerufen.

Eigens ihr zu Ehren ziehen wir weibliche Repräsentantinnen mit hinzu. Während der Antike trugen die griechischen Götter ihre Impulse und Ideen in Menschengestalt auf die Erde. Der Titan Prometheus entwendet Zeus das Feuer, um es den Menschen zu schenken. Er erntet den Felsen und den wiederkehrenden Verlust der Leber. Ein Adler, entsandt durch Zeus, entreißt sie Prometheus Leib. Aber damit auch das Licht, die Wärme und die Erkenntnis (Möglichkeit). Das Bild des Fackelträgers ist ein sehr stimmiges Bild. Erkenntnislicht ins Dunkel tragen, sich in die Zukunft, ins Ungewisse wagen. Sich dem Schein des Lichtes anvertrauen.
Über den Genius

Alexander der Große

ist ein Repräsentant für die Wirksamkeit des Genius. Aus der Perspektive heutiger Weltanschauung würden ihn viele als einen unbeugsamen und tyrannischen Despoten verurteilen. Stark geprägt durch seinen Lehrer Aristoteles, machte er sich als junger Mann auf, ein neues, kulturelles Großreich zu begründen: Hellas. Kein Europäer war zuvor so weit nach Osten gedrungen.

Er trug kulturelle Impulse von Europa über Ägypten, Persien bis nach Indien und wieder zurück. Überall hinterließ er Spuren. Akademien, in denen hellenische Wissenschaft und Kultur gelehrt wurden. Sokrates erklärte das „Daimonion“ als eine innere Stimme göttlichen Ursprungs, einen persönlichen Schutzgeist, der Teil des Ichs ist.

Es wacht über das menschliche Schicksal. Diese innere Stimme warnte ihn in entscheidenden Augenblicken und hielt ihn von der Ausführung einer unrechten Absicht ab. Plutarch war der erste griechische Philosoph, der vom Genius als dem Daemon sprach. Für ihn war er der Leitstern, der über unser Haupt hinausragt:

Der Weise folgt seinem Stern. In unserem Ich kann sich der Genius zeigen. Hier ist der Ort, seine geistige Organisation, wo wir ihn wahrnehmen können. Wir Menschen haben einen Faible für Hochleistungen, Heroen und Eliten. Was wäre unsere Kultur und Wissenschaft ohne die vielen genialen Menschen. Das hohe Lied auf die Genies ist vermutlich ein Produkt dessen. Letztendlich sind die Genies die Wahrgenommenen. Allerdings möchte ich die vielen Erfindenden, die es nicht bis ins Rampenlicht der Geschichte geschafft haben, hiermit ausdrücklich würdigen. Wir sollten nicht den Genius mit dem Genie verwechseln oder in einen Topf werfen.

 

Geistiges Band der Freundschaft – Genius

Ein weiterer Schauplatz für den Genius kann das geistige Band einer Freundschaft sein. Zwei Menschen können ihren Genius gegenseitig wahrnehmen. Bei kaum einer Freundschaft trat dies deutlicher hervor als zwischen Goethe und Schiller. Nach einer vorsichtigen und sich lange Jahre anbahnenden Annäherung, trug diese Freund- und Arbeitsgemeinschaft großartige Früchte für die deutsche Geistesgeschichte. Keiner hat die Größe des Goethe’schen Genius so geschaut wie Schiller. In den Briefwechseln können wir dies in wunderbarer Weise nachvollziehen.

Genius Freundschaft

Einer der profundesten Beobachter war Herman Grimm, ein Brieffreund von Waldo Emerson. Als Antwort auf Goethes Märchen von der grünen Lilie und der Schlange verfasste Schiller die ästhetischen Briefe zur Erziehung des Menschen. Sie dürfen als Spiegel dessen gesehen werden, was Schiller in dem Künstler Goethe gesehen hat. Schiller offenbart Goethe 1794 seinen Genius. „Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu bekommen; in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen Sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf.“

Karl Julius Schröer, einer der profundesten Goethekenner des vorletzten Jahrhunderts, schreibt: „Die Eigenheit des deutschen Geistes ist, wie deutsche Kunst und Phantasie gegründet auf der tiefsten Wahrheit des Seins. Der Deutsche hat ein ästhetisches Gewissen. Viele Fragen werden dem Deutschen aus seiner faustischen Natur heraus zu Gewissensfragen.“ Goethe selber dazu in den Maximen und Reflexionen: „Das Erste und Letzte, was vom Genie gefordert wird, ist Wahrheitsliebe.“

… Das entweihte Gefühl ist nicht mehr Stimme der Götter,

      Und das Orakel verstummt in der entadelten Brust.

Nur in dem stilleren Selbst vernimmt es der horchende Geist noch,

      Und den heiligen Sinn hütet das mystische Wort.

Hier beschwört es der Forscher, der reines Herzens hinabsteigt,

      Und die verlorne Natur gibt ihm die Weisheit zurück.

Hast du, Glücklicher, nie den schützenden Engel verloren,

      Nie des frommen Instinkts liebende Warnung verwirkt,

Malt in dem keuschen Auge noch treu und rein sich die Wahrheit,

      Tönt ihr Rufen dir noch hell in der kindlichen Brust,

Schweigt noch in dem zufriednen Gemüt des Zweifels Empörung,

      Wird sie, weißt dus gewiss, schweigen auf ewig wie heut,…

 

„Der Genius“ von Friedrich Schiller (Auszug)

 

Spirituelle Gemeinschaften

Der Genius zeigt sich auch in spirituellen oder geistigen Gemeinschaften wie der Schule von Chartres oder dem Zisterzienserorden. Die Erstere fand ihren Ort in
Frankreich, in Chartres, bekannt durch eine der erhabensten und schönsten Kathedralen des Mittelalters. Hier versammelten sich die großen Geister der Scholastik wie Alanus ab Insulis, Johannes von Salisbury, Fulbertus und Bernardus Silvestris. In dieser Schule wurden die sieben Künste gelehrt. Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik.

Chartres

Allein, was diese Schule im Äußeren hervorbrachte, ist mehr als erstaunlich. Wer einmal vor ihrem Portal stand und Einlass fand, der kann nur staunend demütig emporblicken. Was diese Menschen alleine künstlerisch architektonisch erschufen, ist ein handfester Hinweis auf den Genius des Mittelalters. Genau diese Menschen empfanden, wie es Bernardus ausdrückte, „sich als Zwerge, die sich auf die Schultern von Riesen gesetzt haben… um Entfernteres zu sehen vermöchten…“

Die zweite Gemeinschaft begann mit der Gründung des Zisterzienser Ordens 1075. Der Gründer Robert von Mosleme und vor allem der später dazu gekommene Bernhard von Clairvaux vermochten neben der Gründung eines neuen Ordens und dessen Ausbreitung vor allem eines:

Zisterzienser

Die Urbarmachung und Reformation der abendländischen Landwirtschaft. Wer Reste dieser großen Ordensgemeinschaft erleben möchte, der Reise ins Kloster Citeaux nahe Dijon. In 100 Jahren wurden über 700 Niederlassungen weltweit gegründet. Clairvaux war für diese Ausbreitung maßgeblich verantwortlich und ebenso für die Erneuerung des klösterlichen Gemeinschaftslebens.

 

Zwei Genia

Zwei Repräsentantinnen der Genia mögen gewürdigt werden. Die eine Jeanne d’Arc, die andere die Künstlerin Camille Claudel.

Jeanne D' Arc

Der französische Dauphin ließ sich von der sechszehnjährigen Jeanne d’Arc überzeugen, seine Truppen gegen die belagernden Engländer anführen zu dürfen. Für ihren Sieg vor Orleans wurde sie weltberühmt. Weniger rühmlich war ihr Tod, verbrannt auf dem Scheiterhaufen als gebrandmarkte Hexe. Sie hatte Schauungen, Aufträge aus der geistigen Welt, die ihr Ruhm und den Tod brachten.
Später wurde sie von der gleichen Kirche heiliggesprochen, die mit dafür gesorgt hatte, dieses Schicksal zu erfahren. Heute wird sie als Nationalheldin geehrt. Immerhin hat ihr Eingriff in die Geschichte unter anderem die Trennung zwischen England und Frankreich bewirkt und damit auch die Entwicklung beider Länder langfristig positiv beeinflusst.

Camille Claudel

Camille Claudel, die Bildhauerin und Geliebte Auguste Rodins, ist eine Zweite. Sie hatte eine weit höhere Begabung als Rodin. In ihrer Rolle als Frau zu Beginn des letzten Jahrhunderts hatte sie es nicht leicht, sich in der Domäne der Männer in der Kunst abzuheben. Mit sehr dezidierten Vorstellungen über die Kunst und das Leben hatte sie in ihren Lebensbeziehungen immer wieder für einigen Wirbel gesorgt.
Wer vor ihren Werken steht, kann kaum umhin, die Größe und den Zauber dieser künstlerischen Kraft zu empfinden. Aufgrund ihrer seelischen Labilität wurde sie nach dem Tod ihres langjährigen Finanziers und Beschützers, ihres Vaters, von der eigenen Mutter und ihrem Bruder in eine Nervenheilanstalt zwangseingewiesen.

Ihr Schaffensstrom wurde dadurch zerstört. Einer späteren Möglichkeit, aus der Klinik entlassen zu werden, wehrte ihre Mutter ab. Nach fast 30 Jahren starb sie einsam und völlig vergessen an Unterernährung und einem Schlaganfall.

 

Der Genius von Unternehmen und Organisationen

Eine höchst spannende Frage ist, ob auch in Organisationen und Unternehmen der Genius wahrgenommen werden kann. Die Reise in dieses unbekannte Terrain kann mit der Frage nach der Resilienz- und Genese-Fähigkeit sozialer Organisationen beginnen. Durch zahlreiche Indikatoren kann dies praktisch untersucht werden. Es bedarf zudem Kategorien und höherer Ebenen zur Erkenntnisbildung. Komplexität und Vielfalt werden so verständlicher. Es schließen sich weitere Fragen an: Was ist die Gestalt der Organisation? Was sind die Kernaufgaben und Handlungsnotwendigkeiten? Welche Prioritäten möge die Organisation für die Zukunft setzen?

 

Gerade in Krisenzeiten eine zentrale, vielleicht sogar lebensrettende Fragestellung. Die gewonnenen Kategorien zeigen sich in Bildern und Graphen. So werden die übergeordneten Ebenen den Beteiligten verständlicher und eine neue Sicht auf die Organisation ermöglicht. So gibt der Genius einer Organisation einen Teil seines Wesens preis. Waren bei den Organisationen die Indikatoren und deren Visualisierung zielführend, stellt sich für Unternehmen eine andere Aufgabe. Welche Werte können sinnvoll messbar gemacht werden?

 

Wie werden sie integraler Bestandteil eines funktionierenden Systems? Ist die Bilanz als Dokumentationswerkzeug in der heutigen Praxis geeignet, zentrale Werte eines Unternehmens abzubilden? Was sind relevante Werte und wie können sie bilanziell messbar gemacht werden? Eines ist sicher: Unsere vorhandenen Sensorien und bilanziellen Werkzeuge sind unzureichend, um zukunftsfähigen Wohlstand, Ökologie und Ökonomie in Einklang zu bringen. Dem Genius eines Unternehmens können wir auf diese Weise näherkommen.

 

Verfassung

Die Frage, ob es für einzelne Länder, Nationen oder gar die Welt einen Genius gibt, ist weit schwieriger zu fassen. Zwei Phänomene zeigen sich. Das erste ist die Sprache und das zweite sind die Verfassungen. Wir verfügen in unseren 194 Nationen der UN über 7079 Sprachen. Sprachvielfalt ist ein Ausdruck des Genius.

 

Äußerlich zeigt er sich in den Ausformungen der Sprache, geistig steht der Logos dahinter. In der Sprache erleben wir auch den Genius einer Gemeinschaft oder eines Volkes. Wir sprechen vom Sprachgeist. Sprachen sind eines der mächtigsten Werkzeuge der Menschheit zur Entfaltung von Kulturen. Wir schließen uns der Sprache an und erschließen sie uns, beginnend als Kind, jeden Tag aufs Neue.

 

Ein weiteres Phänomen für den Genius sind die Verfassungen. Sie tragen in sich einen Rahmen und eine Ordnung für unser Zusammenleben. Wir haben uns 1948 eine international gültige Verfassung gegeben: Die UN-Charta. Sie ist Ausdruck des Miterlebens und der Folge zweier Weltkriege und des Abwurfs der ersten beiden Atombomben. Unsere entfesselten Dämonen trieben die Menschen zu abgrundtiefen und menschenverachtenden Taten.

 

Wir stehen teils heute noch fassungslos da. Wir können es nicht umfassend begreifen, wie das alles hätte geschehen können. Vielleicht verloren die Menschen den Bezug zu ihrem Genius und er kehrte sich ins Gegenteil. Das tiefe Bedürfnis entstand, eine universale Grundordnung für alle Völker und Nationen zu schaffen. Auch um zu verhindern, dass sich dieses große Leid nicht wiederholen möge. Die UN-Charta war auch die Grundlage für die Arbeit der Väter unseres Grundgesetzes.

 

In den großen Kunstwerken mit ihren Kunstschaffenden waltet der Genius. Künstler vermögen Unsichtbares sichtbar oder hörbar zu machen. Sie fügen das Geistige und die Materie zu einem Ganzen zusammen. Sofern es gelingt, ein Kunstwerk zu schaffen, hat sein Genius die Kunstschaffenden berührt. Im Kunstwerk kann ich ihn erleben. Wie jedoch lernen wir Menschen, die guten Geister in uns von den anderen zu erkennen?

 

Dem Menschen steht der Himmel offen wie auch der Abgrund. Die Entscheidung obliegt jedem Einzelnen. Als Deutsche haben wir davon bis Mitte des letzten Jahrhunderts durch den „Führer“ und sein Regime tief abgründige Beispiele für die Wirksamkeit des Bösen. Vielleicht ist es die Aufgabe dieser Zeit, jenes notwendige höhere Bewusstsein zu entwickeln, das uns auch zum Genius führen kann.

 

Dies, um zu lernen, klare Linien zwischen den beiden Reichen, dem Licht und der Finsternis, zu ziehen. In uns liegen die Kraft und die Fähigkeit dafür, diese Entscheidungen zu treffen, jeden Augenblick unseres Lebens. Das seelische Werkzeug ist in erster Linie das Denken und der gesunde Menschenverstand. Natürlich gehört auch das Gefühl dazu.

 

Wir kennen es, wenn unsere inneren Antennen uns warnen, eine andere Entscheidung zu treffen oder eine Handlung zu begehen, als es allein unsere Ratio uns diktiert. Nirgendwo anders kann der Mensch eine größere Sicherheit erlangen als im Denken und Erkennen. Das eigene Denken zu erfassen, zu beobachten und als ein in sich autarkes Instrument unseres menschlichen Geistes zu entwickeln und zu stärken, ist die Grundlage dafür, die Fähigkeit zur Grenzziehung zu meistern.

 

Das geht weit über den gesunden Menschenverstand hinaus. Sich ein eigenes Urteil zu bilden, setzt diese individuelle Gedankenarbeit voraus. Sie verlangt ebenfalls Unvoreingenommenheit und Autonomie des Einzelnen. Für das eigene Handeln stellt sich nun die Frage, wann diese „gut“ ist. Viele Jahrhunderte gelang es den Religionsgemeinschaften, dieses „gut“ für ihre Zwecke zu vereinnahmen und auszunutzen. Damit wird deutlich, dass ich derjenige bin, auf den es hier ankommt. In brenzligen Situationen habe ich eventuell keine Gelegenheit oder Zeit, den moralischen Rat von anderen einzuholen.

 

Wichtig scheint doch, dass jeder Mensch aus seinen individuellen Quellen schöpfend, einen ethisch für ihn vertretbaren Standpunkt für seine Handlung gewinnt. Aus dieser Perspektive wird er seine Tat nur als „gut“ einschätzen können, wenn diese aus Liebe geschieht. Das ist keinesfalls romantisch. Die Liebe urständet im Ich des Menschen und ist überpersönlich. Diese allgemeine Menschenliebe erwächst aus dem Geistigen im Menschen. Die es erlebt haben, schildern es als ein nahezu religiöses Erlebnis, aber in aller Freiheit geschöpft und zu guten Taten führend.

 

Rainer Monnet, Jahreswende 2020/21