Absolventen von Waldorfschulen

Eine empirische Studie zu Bildung und Lebensgestaltung

Absolventen Waldorfschule

Eines der Hauptziele dieser Studie ist es, „sowohl inhaltlich tiefenscharfe als auch auf breiter empirischer Basis gesicherte Befunde darüber zu gewinnen, welche Spuren der Besuch der Freien Waldorfschulen bei den Absolventen hinterlassen hat und wie die Waldorfschulzeit in der Retroperspektive wahrgenommen wird.“ Dabei wurden problemzentrierte Einzelinterviews und Gruppendiskussionen geführt. Von 3500 Fragebogen kamen 1124 ausgefüllt zurück, davon 48,7% weiblichen, und 51% männlichen Geschlechtes. Kommentiert und begleitet von pädagogischen Beiträgen werden die Ergebnisse der Studie von einem Dutzend bekannten Größen der Waldorfszene.

Walter Hiller gibt einen Abriss der Geschichte der Waldorfbewegung seit 1945. Anne Bonnheffer und Michael Brater beleuchten die berufliche Entwicklung der Ehemaligen. Thomas Gensicke referiert zum Thema Lebensorientierung und Michael Ebertz stellt sich der Frage „Was glauben die Ehemaligen?“ Das Kapitel Untersuchung zur Erkrankungsprävalenz und zum Gesundheitsempfinden ehemaliger Waldorfschüler ist von Büssing, Ostermann, Jacobi und Matthiessen in Gemeinschaftsproduktion erstellt.

Dirk Randoll fasst die Zeit in der Waldorfschule zusammen und Heiner Barz arbeitet mit Sylva Panyr die Frage auf „Was ehemalige Waldorfschüler über ihre Schule denken?“. Peter Loebell widmet sich in einem ausführlichem Kapitel den biografischen Wirkungen der Waldorfschule. Christof Wiechert verfasst mit mit seinem Aufsatz eine provokante Note am Schluss der Studie mit dem Titel „Lord, keep my memory green!“

Alles in Allem ist die Studie nach heutigem pädagogischen und wissenschaftlichem Standpunkt eine sehr gelungene Fleißarbeit, die neben rein qualitativen Ergebnissen auch viele qualitative Aspekte der Waldorfpädagogik statistisch belegt. Einige der Resultate dieser Studie hier kurz zusammengefasst:

Nur 11,3 % der Eltern schicken ihre Kinder aufgrund des anthroposophischen Hintergrundes auf die Waldorfschule. Etwa 30% der Kinder entstammen aus Lehrerfamilien. Nur 1,4% davon sind Waldorflehrerkinder und nur 1,9% der Eltern arbeiten in anthroposophischen Einrichtungen. Damit dürfte das Argument, Waldorfschulen seien „Anthroposophenschmieden“, endgültig vom Tisch sein. Erfreulicherweise haben nur 1% der Waldorfschüler nach der Schule keine Ausbildung weitergeführt. Bundesweit liegt die Quote bei 19%.

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm! 14,6% der befragten Ehemaligen sind Lehrer geworden, 46,8 % Akademiker, 26,4% arbeiten in dienstleisungsorientierten Berufen und 11,1% in der Fertigungsindustrie oder im Handwerk. 25,7% der ehemaligen Waldorfschüler sind selbstständig berufstätig. 53,1% Angestellte und 11,5% Beamte. Nur 2% aller Absolventen gaben an, arbeitslos zu sein. Im Durchschnitt machten 61% aller Waldorfschüler das Abitur, 21% Mittlere Reife, 11% Fachhochschulreife (inklusive fachgebunden), 2% Hauptschulabschluss und nur 2,3% keinen Schulabschluss.

Die vorliegenden Zahlen werfen viele kritische Fragen auf, die sich die Waldorfbewegung in der Zukunft stellen möge.

Inwiefern tritt die Waldorfschule als anerkanntes pädagogischen Modell (über 200 Schulen in Deutschland) für weniger Bemittelten und Außenseiter der Gesellschaft ein? Die Quote der Ausländerkinder an den Schulen ist derzeit verschwindend gering. In Anbetracht der großen Probleme der Haupt- und Realschulen wäre eine Waldorfschule, welche sich mehr Ausländerkinder und einem breiteren gesellschaftlichen Spektrum annimmt, eine Wohltat

Ist die von Rudolf Steiner gegründete Arbeiterschule der Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik zu einem humanistischen Gymnasium geworden? Muss die bezahlte Nachfrage eines eher bildungsbürgerlichen Klientels das Profil der Waldorfschulen derartig bestimmen, dass die Oberstufen zu Ausführungsorganen einer „Abiturfabrik“ Waldorfschule gemacht wird?

Wäre es nicht längst Zeit, das Modell der zwölfjährigen Waldorfschulzeit mit den darin enthaltenen Prüfungen zu einem gesellschaftlichen anerkannt gleichwertigen Schulabschluss zu verhelfen? Oder sollten nicht im Anschluss an die zwölfjährige Waldorfzeit, die vom Konzept her einem Gesamtkunstwerk gleicht, „Institute zur Erlangung der Hochschulreife“ (Zitat Wilhelm Ernst Barkhoff) gegründet werden?

Die kürzlich medienwirksam ausgesprochene Kündigung einiger Zwölftklässler aus Freiburger Waldorfschulen, um in Eigenregie das Abitur zu machen, ist eine längst überfällige Reaktion auf Fragen, die unseren Umgang mit Schulabschlüssen betreffen.

Rainer Monnet, Freiburg/Heidelberg

 

Absolventen von Waldorfschulen, Eine empirische Studie zu Bildung und Lebensgestaltung, Heiner Barz, Dirk Randoll (Hrsg.), Verlag für Sozialwissenschaften, 2007

About this book

Die Waldorfpädagogik gilt als weithin anerkannte Alternative zur staatlichen Regelschule. Konzeption und Methoden sind inzwischen breit dokumentiert und auch wissenschaftlich durchleuchtet. Studien über die konkrete Schulwirklichkeit fehlten allerdings bislang genauso wie Forschungen zur Wirksamkeit der Pädagogik Steiners. Gerade dies aber ist ein Charakteristikum der Waldorfpädagogik. Sie beansprucht nachhaltige Wirkungen im Blick auf eine gelingende Lebensgestaltung. Von der Freude am beruflichen Engagement, über Verantwortungsbewusstsein für Gesellschaft und Umwelt bis hin zu positiven Einflüssen auf Lebensführung und Gesundheit im Alter reichen die Wirkungserwartungen.
Diese Untersuchung basiert auf eingehenden Befragungen von ehemaligen Waldorfschülern aus drei Alterskohorten. Die Herausgeber analysieren die konkreten Erfahrungen der Ehemaligen mit der Waldorfpädagogik. Für die Interpretation und Diskussion der Spätfolgen, der Nach- und Nebenwirkungen des Waldorfschulbesuchs in verschiedenen Lebensbereichen konnten namhafte Experten gewonnen werden. Analysiert werden Berufskarrieren, Lebensorientierungen, Religion, Gesundheit. Außerdem wird die Geschichte der Waldorfschulbewegung skizziert.